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Wie kann ich erwachen?

Lieber Dittmar,

ich möchte erwachen. Was kann ich hierfür "tun"? Seit Jahren "übe" ich mich immer wieder darin, bewusst bewusst zu sein. Es ist natürlich nicht wirklich ein "Üben", sondern vielmehr ein "Da sein". Unendliche Male erfuhr ich bereits diese Präsenz, in der alle Erscheinungen auftauchen. Trotzdem ist da immer noch Trennung und Zersplitterung.

Einfach da zu sein, ist mir nicht unbekannt. Diese Leben­dig­keit, die jetzt gerade erlebt und erlebt wird ist mir wohlvertraut. Doch das "TOR-2-Erleben" hat sich bei mir bisher noch nicht eingestellt: "... eine ener­ge­ti­sche Auf­lö­sung, ... wo ... das Gefühl der Getrennt­heit und der Unvoll­stän­dig­keit in der Offen­heit ausge­löscht ist... eine Innig­keit der Quelle mit sich selbst ... in der .... das Erle­ben von Liebe erfüllt ist ... ein stän­di­ges Erwachen in die­sen Moment". Natürlich sind solche Erfahrungen individuell sehr unterschiedlich. Diese Innigkeit, Liebe und Einssein habe ich jedoch so noch nicht erlebt. Was bitte kannst du mir raten?

Danke für deine Frage! Möglicherweise verstehe ich sie nicht in allen Aspekten, die du meinst, deshalb folgen ein paar Fragen von mir, und du kannst auch gerne noch nach-fragen.

 

Hier kommt das erste, was ich nicht verstehe. Du schreibst: „Unendliche Male erfuhr ich bereits diese Präsenz, in der alle Erscheinungen auftauchen. Trotzdem ist da immer noch Trennung und Zersplitterung.“ – Wie erlebst du Getrenntheit von dieser Präsenz? Was erlebst du als getrennt davon? Da ist die Präsenz, die Offenheit, in der die Erscheinungen sich zeigen. Ist da noch etwas anderes als Offenheit und Erscheinungen?

 

Ich liebe dieses Erleben der Offenheit; anders gesagt: Offenheit liebt Offenheit. Mehr weiß ich auch nicht. Was klar ist (dir wahrscheinlich auch): Dieses Erleben kann nicht gemacht oder herbeigeführt werden. Es ist kein Tun, sondern ein Lassen, Einlassen und Sich-Einlassen. Diese Offenheit ist immer da, sie ist, was erlebt. Die Frage ist also: Wie ist es möglich, dass sie übersehen oder „überfühlt“ wird?

Eine Möglichkeit sind natürlich Gedanken, die Objekte oder Themen aus dem lebendigen Strom des Erlebens heraus isolieren und fixieren und damit den Anschein von Getrenntheit erzeugen – wenn sie mit der Wirklichkeit verwechselt werden. Trennung ist nicht nur eine Denkweise, sondern auch die Haltung, das Lebensgefühl, das aus daraus resultiert.  Auch wenn das Denken für eine Weile aussetzt, zum Beispiel in meditativen Zuständen, kann diese Haltung noch weiter bestehen – so wie wenn wir die Luft anhalten im Wissen, dass wir gleich wieder weiteratmen werden, oder wenn wir erschrecken oder wütend sind und es eine Weile dauert, bis diese energetische Anspannung sich wieder löst.

Die nächste Möglichkeit, eng mit der ersten verwandt, auch eine energetische Haltung, ist das, was oft „der Zeuge“ genannt wird: eine Art Beobachter-Position, von der aus das Erleben betrachtet und vielleicht auch beurteilt wird. „Ist es so, wie es sein soll? Entspricht es den Kriterien? Ist es richtig?“ Dieser Zeuge fühlt sich vielleicht freier an als der Stress, die Verwicklungen, die Unruhe, die in einem Organismus auftauchen, der sich für getrennt hält. Aber dieses Freiheitsgefühl kommt aus der Distanzierung vom Organismus und vom Erleben. „Mich betrifft das nicht, ich beobachte das nur.“ Mit dieser Distanz entsteht außer dem Gefühl relativer Freiheit auch ein Gefühl der Kühle: Diese Art distanzierter Beobachtung hat etwas Klinisches, Analytisches – ihr fehlt die Wärme des Erlebens als Ganzes, weil sie eine isolierte Außenperspektive einnimmt und damit wieder von Trennung ausgeht.
Von wo aus erlebt dieser Zeuge, von wo aus wird er erlebt? Auf diese Frage hin kann das Gehirn weitere Zeugen-Positionen konstruieren, oder sie können alle als Konstrukt erkannt werden, als Taktik, um Abstand vom Fühlen zu gewinnen. Das wird auch „Dissoziation“ genannt und ist ursprünglich ein psychischer Abwehrmechanismus, den der Organismus einsetzt, um sich in traumatischen Erlebnissen zu schützen, um heftige Gefühle nicht so nah an sich ran zu lassen und sich von ihnen zu distanzieren: „Ich beobachte das nur.“ Diese Trennung vom Erleben ist gewollt, um sich vor dem Erleben zu schützen. Wenn wir uns aber nicht vor dem Erleben schützen wollen, ist sie natürlich hinderlich. Weil sie sich vom Fühlen abkoppelt, verlieren wir das Gefühl fürs Ganze, das Gefühl von Liebe. Was übrig bleibt ist das Gefühl von Distanz, vielleicht von Überblick, vielleicht von kühler intellektueller Überlegenheit und Freiheit. Ohne Gefühl fürs Ganze, ohne Liebe, orientiert sich „der Beobachter“ eher an Konzepten, an Vorgaben, an Beschreibungen – und fühlt kein Einssein, keine Liebe.

 

Die nächste Möglichkeit, auch wieder mit den ersten beiden verwandt, ist die Vorstellung, dass das „wahre“ Erleben irgendwie losgelöst vom Organismus sein müsste: auch sie ist ein Wunsch nach Dissoziation, ein Streben nach einem gedanklichen Ideal, nach etwas Statischem, einem unveränderlichen „Ein-für-allemal“, etwas Unberührbaren.

 

Liebe, Innigkeit, Erwachen, Einssein – all das ist körperlich fühlbar, sonst wäre es nicht fühlbar. Der Organismus ist, was fühlt und erlebt. Er ist keine Illusion, die überwunden werden muss. Er ist nicht das Getrennt-Sein. Und doch lässt sich jeder Organismus natürlich auch als etwas Getrenntes beschreiben: Dein Körper ist ein anderer als mein Körper, und wo du gerade bist ist woanders als wo ich gerade bin, und wenn du etwas isst, werde ich nicht satt. Das wird sich nicht ändern, solange es Körper gibt; so sind Körper, das ist auch ihre Natur. Und so können sie auch erlebt werden.

Dieses missverständliche Wort „Nondualität“ heißt für mich, dass Getrenntheit und Einssein keine Gegensätze sind. Vielfalt ist das Zusammensein von vielen verschiedenen Aspekten, die sich einzeln beschreiben und wahrnehmen lassen. Wir können einen Organismus als ein Ganzes erleben, und wir können ihn beschreiben als Zusammenspiel von vielen Organen oder von unzähligen Zellen oder sauvielen Atomen, die fast nur Schwingungen im Nichts sind.

 

Die Klarheit und Wärme des Erlebens kommt aus dem Fühlen des Moments, so wie er gerade ist, aus Hingabe ohne Vorgabe. Wenn sich da ein Gefühl von Unerfülltheit zeigt – Sehnsucht, Liebeskummer, Fernweh, Heimweh –, dann empfehle ich, nichts dagegen zu unternehmen, sich nicht davon abzuwenden oder Pläne zu entwickeln, wie es „behoben“ werden kann, sondern diesem Gefühl zu vertrauen und es einfach zu fühlen. Frei von Vorstellungen weiß es, wohin es will, es weiß den Weg, es ist das Tor, und es ist torlos: Es ist die Sehnsucht nach liebevoller Aufmerksamkeit, nach Einssein mit diesem Gefühl. Deine Hingabe ist seine Erfüllung.

Herzliche Grüße

Dittmar

Lieber Dittmar

 

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort und das Angebot, dass ich nachfragen darf. Sehr gerne nehme ich dieses freundliche Angebot an.

 

Zur 1. Frage: „Da ist die Präsenz, die Offenheit, in der die Erscheinungen sich zeigen. Ist da noch etwas anderes als Offenheit und Erscheinungen?“

  • Ja, da ist diese Präsenz, in der die Erscheinungen sich zeigen. Und gleichzeitig ist da diese/meine hartnäckige Überzeugung, dass diese Präsenz nichts anderes als Ausdruck meiner Gehirnaktivität ist, die mit meinem Ableben eines Tages auch nicht mehr sein wird. Da ist diese Präsenz und die hartnäckige Überzeugung, dass mein Körper nicht nur eine Erscheinung darstellt, sondern eine eigenständige Entität besitzt, in der meine Präsent DOCH eingesperrt ist und mir lediglich grenzenlose Freiheit vorgaukelt. Was kann ich bzgl. diesen Überzeugungen tun/unterlassen/untersuchen?

 

Zur 2. Frage: „Dieses Erleben kann nicht gemacht oder herbeigeführt werden. Es ist kein Tun, sondern ein Lassen, Einlassen und Sich-Einlassen. Diese Offenheit ist immer da, sie ist, was erlebt.“

  • Ja, diese Offenheit ist immer da. Doch habe ich leider immer wieder den Eindruck, dass sie lediglich Ausdruck meiner Hirnaktivität ist (wie bereits oben beschrieben)

 

Deine Erklärung, dass diese Offenheit durch Gedanken und durch den „Zeugen“  übersehen und „überfühlt“ werden kann, ist für mich gut nachvollziehbar und schlüssig. Gedanken und der Zeuge verhindern das Fühlen von Einssein und Liebe. Als mögliche Lösung für diese Hindernisse bietest du an: „ … die Wärme des Erlebens kommt aus dem Fühlen des Moments, so wie er gerade ist, aus Hingabe ohne Vorgabe.“

  • Was bitte kann/soll ich tun bzw. seinlassen, wenn mir „Hingabe ohne Vorgabe“ aufgrund von schmerzhaften Lebenserfahrungen und Verbildung schwer fällt bzw. teilweise unmöglich erscheint?

  

  • Verstehe ich dich dahingehend richtig, dass alle Gefühle gefühlt werden sollen, bis schlussendlich lediglich die Wärme des Erlebens überbleibt, die zugleich das Fühlen von Einssein und Liebe darstellt?

Ich antworte dir sehr gerne!

Erst mal finde ich es offensichtlich, dass alle Behauptungen darüber, was nach dem Sterben kommt, von Lebenden ausgesprochen oder geschrieben werden und Vermutungen von Laien sind. Die einzigen Experten sind die, die wirklich gestorben sind, und die halten sich bedeckt. Bei Lebenden geht es da um Nah-Tod-Erlebnisse oder um Hörensagen, Geister-Erscheinungen (die auch Halluzinationen sein können) oder eben um Spekulationen und Theorien.


Auch ich habe da Vermutungen und ein Gefühl, aber kein Wissen.
Wie du schreibst – jetzt in meinen Worten: Was wir erleben, ist Ausdruck von Gehirnaktivität, die im Sterben endet. Dass in einem Zustand keine (räumlichen und zeitlichen) Grenzen erlebt werden, heißt nicht, dass da keine sein könnten; vielleicht werden sie gerade einfach nicht wahrgenommen. 

Jeder Organismus ist nicht nur Erscheinung, sondern auch eine Art zu erleben. Diese Art zu erleben, diese Art des Ausdrucks endet beim Sterben.

In "meinem" Erleben ("mein" in Anführungszeichen, weil es sich gleichzeitig näher als alles und unpersönlich und ganz universell anfühlt) gibt es ein Grundgefühl, was ich bin und was in allem fühlbar ist: das Gemeinsam-Sein vor (und hinter und in) den Unterschieden, das Gefühl fürs Ganze. Das Eine, das sich in der Vielheit ausprobiert und ausdrückt, in all den Organismen. Die Körper erscheinen wie Blasen in einem Schaumbad: In ihnen spiegelt sich das Schaumbad selbst, und sie sind der Schaum, das Bad – und wenn sie platzen, ist diese Spiegelung weg, und weiterhin ist da das Bad und sind da andere Blasen, die entstehen, spiegeln und dann platzen.

Wie das so ist mit solchen Analogien, gibt es natürlich auch Unterschiede zu den Organismen, zum Beispiel erleben (fühlen, sehen, denken ...) Seifenblasen allem Anschein nach sehr wenig. Sie haben keine Sinnesorgane. Sie kümmert kein Entstehen und kein bevorstehendes "Sterben".  Diese Art des Erlebens (scheint mir) gibt es nur für und als Organismus; sie ist eine Co-Produktion des Organismus und seiner Umgebung. Wenn er stirbt, erlebt seine Quelle nicht mehr durch das, was nicht mehr ist: nicht mehr als dieser spezielle Organismus, diese geplatzte Seifenblase, dieser Tropfen, der ins Meer fällt.

Wo du ziemlich sicher sein kannst: Mit dem Organismus enden alle Überzeugungen. Alle Zweifel enden. Alles Eingesperrt-Gefühl endet. Die Offenheit bleibt. Sie wird nicht mehr durch diesen Organismus wahrgenommen, den es nicht mehr gibt, sondern durch alle anderen.

Wie/wo/was warst du, bevor du gezeugt wurdest? Bevor es ein Hirn gab? Wo war da ein Problem?

Zum Thema "Hingabe ohne Vorgabe": Was "Ich" genannt wird, würde ich als "Vorbehalt gegen das Leben" beschreiben, als diese Distanz, die sich nicht ganz einlassen will. Meiner Ansicht nach ist diese Distanz bei allen Menschen durch (auch) schmerzhafte Vorerfahrungen entstanden und durch Erziehung, Bildung, Beschreibungen und Beispiel anderer Menschen verinnerlicht und selbstverständlich geworden. Die Vorerfahrungen waren bei manchen Menschen schmerzhafter als bei anderen, der Abwehrmechanismus ist aber im Wesentlichen derselbe. Er soll vor Schmerzen und Ausgeliefert-Sein schützen, indem er uns isoliert und auf Distanz hält. Er verspricht Freiheit und Sicherheit, dabei sperrt er uns ein und erzeugt das Gefühl von Gefahr.


Wenn wir fühlen, wie weh dieser Mechanismus tut und wie unzufrieden es macht, ihm zu glauben (oder ihn automatisch auszuagieren), dann sind wir ihm nicht mehr ausgeliefert. Anders gesagt: Dann können wir auf ihn verzichten. Wir erkennen ihn nicht als "Ich", sondern als Mechanismus, der uns vor unserer Wirklichkeit abhalten will: dem Fühlen von Einssein, der Liebe, die ohne Vorbehalt erlebt. In der Wärme und dem Licht dieses direkten Erleben "schmelzen" die Gefühle, sie werden als Fließen erlebt. Alles wird im und als Fluss des Erlebens wahrgenommen.
 

(Kommentar einer Leserin:)


Lieber Dittmar,

ic
h möchte gerne auf die letzten zwei Absätze des Artikels "wie-kann-ich-erwachen" eingehen. Dieser von Dir beschriebene Vorbehalt gegen das Leben ist mir sehr bekannt, ich erlebe ihn als einen Mangel an Urvertrauen und wie einen andauernden Fehlalarm. Du schreibst, dass wir diesem Mechanismus nicht mehr ausgeliefert sind, wenn wir fühlen, wie weh er tut und wie unzufrieden es macht, ihn automatisch auszuagieren. Ich erlebe es tatsächlich wie einen Automatismus, wie eine sehr breite Autobahn in meinem neuronalen Netzwerk und kann noch nicht ganz glauben, dass es sich ändert, indem ich den Schmerz darüber fühle. Aber ich werde es erforschen. Vielleicht melde ich mich nochmal, wenn das Forschungsergebnis erkennbar ist ;-). Danke für alles und herzliche Grüße!


 

Liebe ..., danke für deine Nachricht!


Ja, ich interessiere mich sehr für Deine Forschungsergebnisse!
Vielleicht hast Du dieses Video schon gesehen:
Dittmar Kruse im Gespräch mit Bernd Stadlober, Teil 6: Stille, Lebendigkeit, Energie
,
... das halte ich für passend zu dem, was Du schreibst.

Um noch genauer auf das Thema "Neuronale Autobahn" einzugehen: Die Angst, also der Impuls, sich zurückzuziehen oder abzuwenden, scheint vielleicht in einem Moment übermächtig. Das lässt sich als "Mangel an Urvertrauen" beschreiben. Dieser Impuls wurde irgendwann mal so gut gelernt, dass er wie ein Reflex erscheint. Das zu verstehen hilft auch zu verstehen, dass er sich nicht wirklich aufs Jetzt und auf die aktuelle Situation bezieht, sondern auf etwas "Anderes", zumindest jetzt nicht mehr Existentes.
Aus diesem Verständnis kann die Geduld und die Konsequenz wachsen, dran zu bleiben: die Sehnsucht nach dem, was Du vermisst, zu achten.


Das ist so ähnlich (nicht dasselbe, aber so ähnlich) wie eine Tänzerin eine Bewegung lernt, die nicht und nicht kommt - und durch Verständnis, Geduld und Konsequenz dann doch kommt. Das ist weniger ein Vertrauen ins Machen, sondern ein Vertrauen ins Loslassen und den Organismus die Bewegung finden lassen.


Ein gutes Beispiel für dieses Loslassen ist das Einschlafen. Dieses Loslassen geschieht jede Nacht irgendwann. Spätestens wenn der Organismus erschöpft ist, kommt das "Urvertrauen" ins Leben, das sich als Loslassen zeigt. Selbst Menschen, die vorher Angst vor Albträumen hatten, geben sich diesem Sog hin.


Einschlafen ist kein Machen, Loslassen ist kein Machen, aber es geschieht viel leichter, wenn man ins Bett geht.

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