Tod und Trauer
Lieber Dittmar,
vielen Dank für Deine Bücher und Deine Internetbeiträge sowie die kostenlose Möglichkeit, sich an Dich zu wenden! Es ist gar nicht üblich in den Kreisen, solch einen Dienst anzubieten, aber stimmiger als alles andere fühlt es sich für mich an. Danke ❤
Schon lange bin ich auf dem Weg und dem Auseinandersetzen, was Wahrheit ist. Irgendwie habe ich viele Worte, aber diese werden gleich wieder relativiert, so dass nicht viel übrig bleibt, was ich eigentlich hier sagen möchte. Daher eine kurze Bitte an Dich, würdest Du mir bitte was zum Tod erläutern? Mein Vater ist plötzlich verstorben. Ich weiß und fühle es oft, wie es ohne Grenzen ist, und diese Weite und Leichtigkeit und dass alles gut ist, wie es ist. Und doch fühle ich große Traurigkeit und der Gedanke, ihm nicht mehr als Mensch zu begegnen, nie wieder, stimmt mich sehr traurig. Es ist für mich einfach unvorstellbar.
Das Ich will einfach nicht von mir weichen, fühle jeden Morgen, wie es sich wieder zusammenzieht im Körper und wieder der Alltag beginnt, die Aufmerksamkeit nach außen gezogen wird. Ich bin ratlos, ich weiß es doch und trotzdem gelingt es nicht, im Hintergrund in der Stille und Weite zu bleiben, von dort aus zu schauen und zu agieren. Würdest Du mir bitte helfen, endlich dort zu bleiben wo Du bist ?
Danke, dass ich Dir schreiben darf, ich freue mich auf Deine Antwort!
Sei lieb gegrüßt
Liebe …,
es ist ein sehr passender Zeitpunkt, um mir zum Thema “Tod” zu schreiben; auch mein Vater ist vor ein paar Tagen verstorben.
Du schreibst von Grenzenlosigkeit, Weite und Leichtigkeit – “… und doch … Traurigkeit”. Das ist kein Gegensatz: Die Traurigkeit kommt und geht in dieser Weite wie jede andere Energie auch.
Wenn sie kommt und da ist, braucht sich ihr nichts entgegen zu stellen, als wäre sie fehl am Platz. Traurigkeit ist auch eine schöne Energie; das scheint nur anders, wenn ihr Widerstand entgegen gebracht wird.
Denke an traurige Musik – wäre die Welt nicht ärmer, wenn es nur Happy-Songs in Dur geben würde? Auch Mozart hat in all seiner kosmischen Heiterkeit wunderschöne tieftraurige Sätze und Stücke komponiert.
Und denke an Gefühle wie Rührung, auch das hat ja mit Trauer zu tun! Die Gefühlspalette ist unendlich reich und nicht auf Dauer-Fröhlichkeit beschränkt.
Die weite, grenzenlose Großzügigkeit, in der auch Trauer ihren Lebensraum hat, ist keine Position, in der jemand Abstand zum Erleben hätte. Sie ist die Innigkeit, in der gefühlt wird. Sie ist in der Trauer und ist der Raum für sie. Ihr Aufnehmen, ihr Willkommen ist ganz bedingungslos und von vornherein da, nicht erst nach Überprüfung und Aussortieren des Unerwünschten.
Ja, der Gedanke, jemandem nie wieder als Mensch zu begegnen, kann traurig stimmen, der endgültige Abschied von einer bestimmten Form. Aber da ist diese Formlosigkeit, das Absolute, das eine Leben, das all diese Gestalten annimmt und in jeder Form lebt.
Stell dir einen Baum vor: Er lebt in seinen Blättern, und im Herbst wirft er jedes Blatt ab, auch das schönste. Der Baum lebt weiter und erzeugt neue Blätter.
Wie du dir vielleicht schon gedacht hast, stehen die Blätter in dieser Metapher für Organismen mit ihren Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen usw. Zum Beispiel für uns beide und unsere Väter. Die Blatt-zu-Blatt-Kommunikation funktioniert nicht mehr, wenn die Blätter abgeworfen werden. Das eine Leben, das in ihnen war, ist aber nicht verloren, sondern wechselt nur in neue Formen. Für das Blatt, das sich so gut mit dem Nachbar-Blatt verstanden hat, mag das traurig sein.
Es ist aber auch eine Gelegenheit, deinen Vater neu zu fühlen. Statt dem Vater-Blatt als Tochter-Blatt zu begegnen, kannst du das, was durch ihn und als er gelebt hat, in allem finden: in diesen Zeilen, im Atem, in dieser unendlichen Lebendigkeit. Das Geschenk dabei ist, ihn von der Identifikation mit einer bestimmten Form zu erlösen – und dich auch.
Statt einer Begegnung ist es dann ein liebevolles, dankbares Einssein mit dem, was jetzt und immer da ist: der Baum.
Als mein Vater im Sterben lag, habe ich viel Trauer und Mitgefühl und Rührung empfunden, weil er so große Schmerzen hatte und so ums Überleben gekämpft hat.
Gleichzeitig wurde die Stille und Weite immer deutlicher spürbar, die als wir lebt. Eine unendliche liebevolle Klarheit inmitten von all dem Schmerz und Kampf.
Und so erlebe ich ihn auch jetzt: nicht als Person, nicht als Einzelwesen, nicht als Erscheinung, sondern als liebevolle, klare Lebendigkeit, frei von Erinnerungen, frei von Gedanken, frei.
Dafür bin ich sehr dankbar.
Liebe Grüße
Dittmar