Greift das Bewusstsein ein?
Hallo Dittmar,
ich schaue mir gerade Deine neue Seite an. Ich freue mich immer noch sehr über die erlösende Idee, dass es nichts zu „erarbeiten“ gibt. Als esoterisch erfahrener Mensch ist das mal was ganz anderes. Ich erinnere mich noch an den erschrockenen Moment, als ich in „Glück ohne Schmied“ begriffen habe, dass es auf eine ernüchternde Tatsache hinausläuft, die ich jedoch nicht leugnen kann. Diese Tatsache hat sich aber schnell sehr gut angefühlt.
Ich habe mich gefragt, ob das reine Bewusstsein irgendwie ins Leben eingreifen kann. Ich meine damit die Momente, wo uns im Leben bewusst wird, dass wir was ändern müssen. Sei es, das Rauchen aufzuhören oder Gewicht zu verlieren oder sich zu trennen. Oft spürt man schon lange, dass es so nicht mehr passt. Aber man kann sich noch nicht durchringen, es endlich umzusetzen.
Ich habe an dieser Stelle manchmal das Gefühl, unser bewusstes Denken ist wie eine Murmelbahn. Die Kugel kann nur die eingestellten Bahnen entlang laufen. In einem dualen Weltbild kommt dann ja viel Ärger dadurch auf, dass man sich unfähig oder zu dumm fühlt, etwas zu ändern und dass es trotzdem so ja nicht weiter gehen kann. Irgendwann kommt dann eine Veränderung in die Lage einer Bahn der Kugellaufbahn und plötzlich klappt es. Im Zustand nondualer Wahrnehmung kann man das, wie ich finde schön beobachten, ohne den ganzen Ärger dabei.
Ich habe sehr wohl den Eindruck, dass mir in der nondualen Wahrnehmung viele Dinge leichter fallen. Zum Beispiel Entscheidungen oder Veränderungen. Einfach weil ich leichter loslassen kann. Aber kann das Bewusstsein selbst aktiv werden? Eine Entscheidung treffen oder eine Aktion initiieren? Oder ist das Leben mit all seinen Entscheidungen und Aktionen letztendlich doch eine ziemlich neurologische Kugelbahn? Ich glaube fast, das Bewusstsein kann selbst nicht aktiv werden und Entscheidungen oder Aktionen selbst auslösen. Der Zustand in der Wahrnehmung ohne „Ich“ allerdings hat eine katalytische Wirkung auf die positive Entwicklung. Es fallen ja so viele Widerstände weg, wie ich finde.
Ich finde es manchmal erschreckend und ernüchternd und dann wieder sehr erlösend und ekstatisch schön, wenn ich feststelle, das ich weder beim Zähneputzen noch beim e-Mail-Schreiben lenken und eingreifen, planen, regulieren und vorgeben muss. Das Leben geschieht und mein Leben geschieht und ich beobachte mich manchmal beim Leben. Und dennoch habe ich bei allem gute Ergebnisse, ob ich als „Ich“ empfinde oder entspannt beobachte, ohne „Ich“. Aber man kann es echt keinem einfach so erzählen, ich hab es versucht. Entweder schauen sie einen ziemlich vorsichtig an oder verstehen es einfach grundsätzlich nicht. Tipps, wie man immer entspannt und glücklich ist, obwohl man die Steuerklärung machen muss oder gerade von Chinesen gefoltert wird, kommen hingegen immer gut an.
Soweit meine Gedanken an diesem Abend. Hier im Allgäu hat es noch keinen Schnee. Bis bald und herzliche Grüße,
Stefan
PS: „Weißt du, was super schmeckt? Wenn du ein Fitzelchen Zitron von Schale in den Espresso tust!“ Bitte hilf mir! Woher ist dieser Spruch nochmal? Hab ich ne Zeit lang sogar immer zitiert und mir fällt es nicht mehr ein!
Lieber Stefan,
ich würde nicht sagen, dass das Bewusstsein ins Leben „eingreifen“ kann. Dazu müsste es außerhalb des Lebens sein, getrennt davon, statt das ganze Leben zu sein, mit all seinen Erscheinungen und Aktivitäten. Das Leben hat keinen Eingriff.
Wenn aber die Vorstellung, der Eingreifer zu sein, nicht mehr geglaubt wird, dann können Lebensbereiche (Themen) sich entspannen, die sich um diese Vorstellung herum gebildet hatten.
Ohne den Glauben, der Kugelbahnbauer oder –lenker zu sein, fällt ja auch seine Kehrseite weg: „Ich bin unfähig, zu dumm …“ – die Unzufriedenheit und der Ärger über die Inkompetenz dieses Eingreifers.
Gleichzeitig kann es ein immenses Vertrauen ins Leben spürbar werden, das immer schon funktioniert hat, ohne Eingriff, ohne Gegenüber, das gegensteuern muss. Und damit auch ein Vertrauen in die Veränderungen, die das Leben mit sich bringt.
Auf vielen Kugelbahnen, die aus Angst und dem Wunsch nach Kontrolle gebaut wurden, rollt dann einfach keine Kugel mehr – mangels Angst, mangels Kontrollwunsch. Mangels scheinbarer Notwendigkeit, diesen Denkbahnen weiter zu folgen.
Eine Sucht kann wegfallen, weil das, wovon sie ablenken sollte, keine Angst mehr macht, sondern willkommen ist.
Die Sucht fällt weg, weil sie nicht mehr gegensteuern soll; weil sie nichts mehr in den Griff kriegen soll; weil kein Gefühlsmanagement mehr nötig erscheint; weil es keinen Grund mehr gibt, zu versuchen, sich von der Gegenwart fernzuhalten.
Frei vom Eingreif-Wahn kann klar gesehen und gefühlt werden, was eine bestimmte Kugelbahn, ein Verhaltens-, Denk- und Aufmerksamkeitsmuster, versprochen hat (Sicherheit, Liebe, Glück …) und was es stattdessen mit sich bringt (Angst, das Gefühl von Getrenntheit, Unglück …).
In dieser liebevollen, unvoreingenommenen Aufmerksamkeit dafür, was wirklich geschieht, verliert das Muster seine Anziehungskraft, seine Schwerkraft, seine scheinbare Notwendigkeit.
Ohne diese Schwerkraft rollt die Kugel vielleicht noch eine Weile weiter (setzt sich die Gewohnheit vielleicht noch eine Weile fort), aber dann schwebt sie frei und ungebahnt als spontane, kreative Lebendigkeit. Vielleicht schwebt die Kugel davon, oder vielleicht findet sie eine schönere Bahn: eine sinnvollere, gesündere Gewohnheit.
„Fitzelchen Zitron“ sagt übrigens Dimitri aus „Beverly Hills Cop“.
Er sagt auch: „Mühe? Aber nicht doch, Dummerchen!“
In diesem Sinne, viele Grüße ins Allgäu!
Dittmar