Erwachen — ein Ereignis?
Lieber Dittmar,
ich hatte damals am Gesprächstag die Frage, ob “Erwachen” eine Erfahrung ist. Würde diese Frage jetzt anders formulieren: Ist mit dem Durchschauen von Gedanken (und damit auch des Ich-Gedanken) notwendigerweise ein Ereignis (was Tony Parsons vielleicht als “shift” meint) verbunden? Denn es “merkt” ja niemand, dass etwas geschieht, oder? Dahinter scheint zu stehen, dass wenn ich drüber nachdenke, automatisch der Versuch gemacht wird, das Nichts, was scheinbar alles wahrnimmt oder alles ist, zu personifizieren, und so wieder etwas zu haben, womit man sich identifizieren könnte. Ich geh mir selbst auf den Geist mit diesen sich im Kreis drehenden Überlegungen, die zu nichts führen, außer dass diese Gedanken weiter existieren. Komischerweise tauchen dabei Erinnerungen daran auf, wie ich als Kind auf dem 3-Meter-Brett stehe und das halbe Schwimmbad lahmlege, mit den widerstreitenden Wünschen zu springen und nicht zu springen.
Lieber …
meine Antwort ist wie üblich paradox. Das Paradox hier schon mal vorweg: Ja, Erwachen habe ich als Ereignis erlebt, als unmissverständliche Auflösung. Und nein, dadurch wird nichts anderes wahrgenommen (die Farben sind nicht bunter), aber die eine Präsenz in allem (das Nichts) gefühlt / gesehen … Und nochmal nein: Die Präsenz ist nicht auf dieses Erleben angewiesen, um Präsenz zu sein. Sie ist schon das Leben, alle Gedanken, Verwirrung, Klarheit, Weite, Enge …
Der Ausdruck “Erwachen” ist an sich schon paradox: In meinem Sprachgebrauch heißt Erwachen Erkennen, was immer schon wach ist. Erleben, dass da nur Wachheit ist.
Erwachen heißt nicht, eine Überzeugung zum Thema “Ichlosigkeit” zu haben. Es heißt auch nicht, sich immer an ein Erwachenserlebnis zu erinnern, an einem Moment der Klarheit festzuhalten.
Intellektuelles Verstehen der Ichlosigkeit, Schauen-und-kein-Ich-finden und die damit verbundene Erleichterung oder Klarheit: Das ist nur eine Betrachtungsweise, die kommt und geht (wenn der Gedanke an sie oder die Aufmerksamkeit für sie nicht da ist). Eine Überzeugung, eine Erinnerung sind kein direktes Erleben.
Ist da ein Empfinden, dass Du dem Erleben gegenüberstehst? Ist jemand auf der Kommandobrücke? Wird der Bewertungsmechanismus (“Ist es das schon? Ist das richtig? …”) erkannt als Mechanismus, oder fühlt er sich wie “Du” an, bis die Aufmerksamkeit sich ihm zuwendet?
Diese Vorstellung eines getrennten, isolierten Wesens hält einer genaueren Betrachtung nicht stand, und doch scheint sie ohne genaue Betrachtung bei vielen immer wieder implizit im Erleben aufzutauchen, als Bezugspunkt / Zentrum des Erlebens vorausgesetzt. Dieses Schein-Zentrum und die gedankliche und gefühlte Kontraktion um dieses imaginäre Zentrum herum kann sich aber auflösen.
“Es ‘merkt’ ja niemand, dass etwas geschieht” – diese Beschreibung fand ich schon immer seltsam. Denn es ist ja genauso bei allen Sinneseindrücken, dass sie bemerkt werden ohne einen Bemerker, kommentiert werden ohne Kommentator (und dieser Kommentar auch wieder bemerkt und kommentiert wird usw.).
Den Moment, als die Illusion wegfiel, habe ich als stärksten Eindruck ‘meines’ Lebens erlebt: als wäre die Blase geplatzt, in der ich mich bis dahin gewähnt hatte; als wäre eine Trennwand verschwunden, die ich vorher kaum wahrgenommen hatte (die erst durch ihr Verschwinden voll ins Bewusstsein gekommen war); als wäre der Erlebende explodiert und in alles Erleben hinein geschleudert … Ein sehr deutlicher Vorher / Nachher-Kontrast. Wenn jemand anders sich aber nicht so getrennt gefühlt hat, ist dieser Kontrast vielleicht weniger deutlich, oder der Übergang ist fließender. Ob Du vom Brett ins Wasser springst oder ob Du sanft vom Beckenrand ins Wasser gleitest, ist egal. Auf jeden Fall ist klar, dass Du im Wasser bist. (Hier hinkt der Vergleich: Du bist das Wasser.) Das Wegfallen der Ich-Illusion geschieht anscheinend auf viele verschiedene Arten. Es muss nicht so sein wie bei mir. Ich bin kein Experte fürs Erwachen, sondern kann nur beschreiben, wie ich es erlebt habe.
Auf YouTube gibt es Videos von Gehörlosen, die mit Cochlea-Implantat zum ersten Mal hören (und davon überwältigt sind). Da ist keine Frage “Ist das jetzt schon Hören?”, das ist ganz unzweifelhaft. Oder bei den “Magic Eye” 3D-Bildern: Plötzlich wird eine Gestalt gesehen, die vorher nicht erkannt wurde. Dieses Sehen ist auf einmal da. So habe ich Erwachen erlebt: als ein Wegfallen, Freiwerden, Entkleistern und gleichzeitig als die Präsenz des Zeitlosen, Absoluten … das vorher nicht weg gewesen war, sondern ignoriert wurde. Und das ist das Paradoxe dabei: Diese Präsenz ist schon immer alles Erleben (oder “das, was erlebt”). Sie ist nicht davon abhängig, dass sie erkannt wird.
Die Frage “Ist es das schon?” hat sich erledigt. Es ist schon das Leben in voller Blüte, mit allen Gewohnheiten. Immer wieder mal tauchen alte Gewohnheitsmuster auf, und wenn sie genug stressen, dann werden sie genauer betrachtet. Im Licht dieser Betrachtung verändern sie sich (wie ein Update) oder sie laufen noch eine Weile so weiter.
Alles ist Wasser, auch die Vorstellung vom Land und vom Beckenrand, das Kind und die widerstreitenden Wünsche. Das Sprungbrett ist Wasser, und alles darauf auch.
Ich hoffe, Du kannst nichts damit anfangen. 🙂
Lieber Dittmar,
dank dir sehr für deine einleuchtenden Worte! Sie sind angekommen.
Du schreibst: “…als wäre eine Trennwand verschwunden, die ich vorher kaum wahrgenommen hatte – die erst durch ihr Verschwinden ins Bewusstsein gekommen war…”
Bei diesen Worten merke ich, wie wenig ich überhaupt davon mitbekomme, ob oder dass da ein Empfinden ist, dass ICH dem Erleben gegenüberstehe, oder dass jemand auf der Kommandobrücke steht.
Ähnlich dem wie du es beschreibst, ist im direkten Hinsehen und Nachspüren keine Wesenheit hinter dem Wort “Ich” zu erfassen. Doch scheint die Vorannahme “immer wieder implizit im Erleben aufzutauchen, als Bezugspunkt / Zentrum des Erlebens vorausgesetzt”. Logisch, dass das verwirrend ist.
Und damit komme ich zu deiner Frage: “Wird der Bewertungsmechanismus (“Ist es das schon? Ist das richtig? …”) erkannt als Mechanismus, oder fühlt er sich wie “Du” an, bis die Aufmerksamkeit sich ihm zuwendet?”
Es scheint gewohnheitsmäßig vorausgesetzt zu sein, dass es in mir ein Etwas gibt, das Bewertungen wie ein Schiedsrichter abgibt, nämlich am Spiel nicht beteiligt und es wird seltsamerweise einfach so (ohne Begründung) vorausgesetzt, dass diese Kommentare vollkommen unabhängig, neutral, über den Dingen stehend, wie getrennt von ihnen, die Realität so beschreiben wie sie ist, so als wären diese Beurteilungen selber nicht Teil der Realität.
Zu erleben, dass sie doch nur ein Teil unter vielen anderen des Daseins sind, fühlt sich an wie ein irritierendes Flackern, wie ein Wackelkontakt.
Und wie du schreibst, wenn sich dem die Aufmerksamkeit zuwendet, dann ist nichts von einer Ich-Substanz zu erkennen und doch scheint dieser blinde Fleck einfach “überspielt” zu werden mit einem “Ersatz”, vielleicht weil die Leere Angst macht(?).
Also ist es einleuchtend, dass da nichts ist aber, wie du sagst, nur dann wenn die Aufmerksamkeit darauf ruht.
Ich glaube, dass ich mich immer wieder mit diesen Themen beschäftigt habe, weil unterschwellig die Hoffnung bestand, dass die Gedanken “etwas bringen”, mich zu einem Zustand führen würden, der irgendwie Sorgenfreiheit verspricht.
Aber “in Gedanken ist es nicht zu finden”.
Und das, was jenseits von Gedanken liegen mag, kann ich mir nicht vorstellen und ‘interessiert mich’ deshalb auch nicht, im Gegenteil: Wenn ich drüber nachsinne, bleibt nur Angst, weil es Kontrollverlust impliziert und irgendwie besteht die Überzeugung, dass ich bisher, mehr oder weniger, Kontrolle hatte.
Da ist eine immer stärker werdende Müdigkeit, mich überhaupt gedanklich mit diesen Themen zu beschäftigen, eben weil die Gedanken ‘nichts bringen’. Sie drehen sich immer nur im Kreis, während im Alltag meistens alles beim Alten bleibt.
Ich stehe vor deinen wunderbaren Beschreibungen von Erkennen / Erwachen wie der Ochs vorm Berg. Die Gedanken versuchen sich eine Vorstellung zu machen, aber es geht nicht oder besser gesagt, diese Vorstellungen haben die gleiche Wirkung, wie als würde mir die Speisekarte (oder eins dieser Speise-Imitate aus Kunststoff) anstelle der echten Speisen serviert: Ich kann tatsächlich nichts damit anfangen.
Lieber …, ich schreib Dir immer wieder gerne und freue mich auch über Deine scharfsinnigen und ehrlichen Antworten.
1. Ich kann die Angst vor dem Kontrollverlust verstehen. Auch wenn “eigentlich” klar ist, dass da keiner die Kontrolle hat. Ich hatte auch ganz große Angst, wollte mich lieber bessern als mich verlieren.
Einfach gesagt ist die Angst unbegründet. Der “Kommentator” wird als Mechanismus erkannt, der Dir nie entsprochen hat, aber immer für Dich gesprochen hat; der Dich nie verstanden hat, aber immer so klang als wäre er Du.
Er verliert seinen Machtanspruch (ein Schiedsrichter kann das Spiel wenigstens unterbrechen!) und ist nur noch ein Text, der abläuft, keine Autorität.
Das ist kein Verlust. Aber ein Loslassen, Aufgeben, Einlassen, Aufhören … für etwas Unbekanntes.
2. Ich finde es sehr natürlich, dass dieses Thema viel Aufmerksamkeit auf sich zieht! Und ich kenne auch die Ermüdung und das Gelangweiltsein durch die vielen Gedanken.
Vielleicht gibt es bei Dir jetzt einfach größere Bewusstheit über die verschleiernde / verzerrende Wirkung von Gedanken, das hat vielleicht gar nicht so viel mit dem Thema zu tun …?