Die Antwort auf alle Fragen
Lieber Herr Kruse,
heute Vormittag habe ich Ihr Buch “Glück ohne Schmied” gelesen. Obwohl “ich” (ich verzichte künftig auf die Anführungszeichen, Sie kennen ja das Dilemma der Sprache) mit dessen Grundaussagen bereits lange vertraut bin, hat mich die Lektüre doch wieder daran erinnert, den Fokus genauer auf die Wahrnehmung, auf das direkte Erleben, zu richten und dadurch das permanente Wunder des Seins zu erkennen. Dafür danke ich Ihnen herzlich! Sie laden den Leser am Ende Ihres Buches dazu ein, Ihnen zu schreiben und auftauchende Fragen zu stellen. Diese Gelegenheit möchte ich gerne wahrnehmen.
Seit einem “Einheitserlebnis” vor vier Jahren habe ich das “Sein” für ca. eine Stunde direkt erlebt, ohne einengende, da nicht „ernst genommene“ Gedanken (resp. Geschichten, Konzepte etc.). Seitdem ist mir bewusst, dass es nur den jetzigen Moment gibt, dass Vergangenheit und Zukunft nur Geschichten sind, genauso wie das Konzept des „Ich“. Besonders entscheidend war für mich die Einsicht, dass auftauchende Gedanken überhaupt kein „Problem“ sind. Problematisch kann’s erst dann werden, wenn man diese Gedanken (etwa den „Ich-Gedanken“) für mehr nimmt als eben – einen Gedanken.
So weit, so gut. Woran ich dann aber doch immer wieder hängenbleibe, sind Fragen, die sich auf die “Wirklichkeit” der Welt beziehen. Gibt es die Welt überhaupt? Gibt es den eigenen Körper? Oder sind auch dies nur Gedankengebilde, Konzepte? Für mich spitzte sich diese Frage vor allem zu einer Frage zu: Sind meine Gedanken die Produkte meines Gehirns oder ist mein Gehirn das Produkt meiner Gedanken? Aus konsequenter (meinetwegen: phänomenologischer) Perspektive müsste m.E. die zweite Antwort die richtige sein. Alles ist letztlich ein Gedankenkonzept, das eben im Jetzt, im direkten Erleben, auftaucht, aber gewissermaßen keinen “ontologischen Status” besitzt. Und dies gilt denn auch für Konzepte wie Kausalität und Zeit. Würden Sie dieser Einschätzung zustimmen oder nicht so weit gehen?
Besonders intensiv taucht “hier” immer wieder die Frage nach der “Wirklichkeit” des “anderen Menschen” auf. Ich bin mir mittlerweile bewusst (diese paradoxe Formulierung ist freilich nur der Sprache geschuldet), dass es das “Ich” als Instanz nicht gibt, dass das “Ich” lediglich ein Konzept ist wie “Du” und “Menschen” allgemein. Das Einzige, was ich nicht nur als Konzept erlebe / begreife, ist das “direkte Erleben”, die Wahrnehmung mit all ihren Aspekten (formuliere ich es so, ist es natürlich nicht mehr die direkte Wahrnehmung – das ewige Dilemma der Mystik …). Aber: Die “direkte Wahrnehmung” ist “hier”, das ist mir eindeutig evident, gerade weil sie kein Nach-Denken benötigt. Inwiefern kann ich aber wissen, ob es die “direkte Wahrnehmung” “dort” (beispielsweise “bei Ihnen in München”) auch gibt?
Ist das nicht einfach wieder nur ein Gedanke, der eben “bei mir hier” auftaucht, aber eben nur ein Konzept ist? Oder aus Ihrer Perspektive formuliert: Können Sie wissen, ob “dort” (beispielsweise “bei mir in Berlin”, eben nicht bei Ihnen) ebenfalls direktes Erleben stattfindet? Und wenn dies nicht möglich ist, liefe das nicht auf ein solipsistisches Weltbild heraus – freilich auf einen Solipsismus ohne Ich?
Lieber Herr Kruse, ich weiß weder, ob ich Ihnen das Problem, das hier immer wieder auftaucht, einigermaßen verständlich machen konnte. Noch weiß ich, warum ich Ihnen dieses Problem überhaupt mitteile. Vielleicht ist hier die Hoffnung auf eine Antwort, die das ewige Fragen endlich zur Ruhe bringen könnte. Jedenfalls tauchte der Impuls auf, Ihnen diese Mail zu schreiben. Vielleicht haben Sie ja den Impuls, darauf zu reagieren? Ich würde mich sehr darüber freuen!
Danke für Ihre Fragen!
Wie Sie schreiben: “Problematisch kann’s erst dann werden, wenn man diese Gedanken (etwa den ‘Ich-Gedanken’) für mehr nimmt als eben – einen Gedanken.”
Das gilt ebenso für Fragen wie: “Gibt es … oder nicht?” Auch das sind ja Gedanken.
Ihr Einheitserlebnis hatte ja wahrscheinlich nichts damit zu tun, dass Sie auf jede mögliche Frage eine Antwort wussten. Das ist die gedankliche Vorstellung von Klarheit: auf jede Frage eine eindeutige Antwort zu haben.
“Wenn Antwort A richtig ist, dann muss Antwort B falsch sein” – so die Sichtweise und Logik von Gedanken. “Entweder A existiert oder A existiert nicht.” “Ist das Illusion oder Realität?”
“Das permanente Wunder des Seins”, wie Sie es nennen, besteht ja nicht darin, eine Erklärung für alles zu haben. Sondern im Staunen über die schillernde Unbegreiflichkeit und Unbegrifflichkeit des Seins, manifestiert in der zeitlosen Gegenwart.
Im Wunder des Einen als Vielheit (1als2 heißt meine Webseite), in all diesen Paradoxien. Nicht im “Entweder-Oder”, sondern im “Sowohl-Als auch” und im “Weder-Noch”.
“Sind meine Gedanken die Produkte meines Gehirns oder ist mein Gehirn das Produkt meiner Gedanken?”
Ja, beides. Und weder noch. Je nachdem. Ein Gehirn scheint sehr wichtig, um Gedanken produzieren zu können. Das zeigt sich deutlich, wenn das Gehirn in seiner Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird, z.B. durch Alkohol, organische Schädigungen wie Schlaganfall oder einfach nur durch Müdigkeit.
Wenn das Gehirn nicht gut funktioniert, wirkt sich das drastisch auf die Gedanken aus. Und gleichzeitig tauchen all diese Gedanken an und über das Gehirn ja eben gerade als Gedanken auf: “Mein Gehirn” ist ein Gedanke.
Dass etwas direkt erlebt wird, heißt nicht, dass es wahr ist (siehe Halluzinationen); dass etwas nicht direkt erlebt wird, heißt nicht, dass es nicht existiert. “Wenn ein LKW auf Sie zu rast, schließen Sie einfach die Augen und halten sich die Ohren zu, dann ist er verschwunden!” – ich würde mich nicht darauf verlassen.
Die einzige verlässliche “Tatsache” scheint mir: Da ist Erleben. Ob das ein Traum ist, ein Gedanke oder Buchstaben auf einem Monitor: Da ist wirklich Erleben; Lebendigkeit, die jetzt gerade erlebt und erlebt wird.
Und was erlebt wird, ist ein Zusammenspiel von allen Sinneseindrücken, die gerade da sind. Diese Eindrücke sind das Zusammenspiel vom Organismus und seiner Umwelt. Das kann von Gedanken unterteilt werden: Hier Organismus, dort Umwelt. Im direkten Erleben ist immer beides gleichzeitig da und spielt zusammen. Beides taucht im Bewusstsein / als Bewusstsein auf. Dieses Bewusstsein manifestiert sich als Erscheinungen, die durch einen bestimmten Organismus wahrgenommen werden; die Erscheinungen sind nicht unabhängig vom Organismus und vom Bewusstsein. Und der Organismus ist selbst eine Vielzahl von Erscheinungen.
Was Sie über “mich hier in München” denken, ist natürlich ein Gedankenkonstrukt, ebenso wie meine Gedanken an “Sie dort in Berlin” (und “meine” Gedanken an “München” und “mich” und “sonstige Gedanken”).
Ich verwechsle Sie nicht mit den Gedanken an Sie, gehe aber (sagen wir mal “intuitiv”) davon aus, dass bei Ihnen ebenfalls direktes Erleben ist. Beweisen könnte ich es nicht, fordert ja auch keiner.
Mein Bild zu unseren beiden Organismen ist wie zwei Äste an einem Baum. Die erleben unterschiedliche Dinge: Auf einem landet gerade ein Vogel, der andere verliert ein paar Blätter im Wind … Und doch sind beide Manifestationen desselben Baums und SIND derselbe Baum. 1als2.
Um meine Antwort in einem Satz zusammenzufassen: Die Wirklichkeit liegt jenseits von Gedanken und kann von ihnen nie erfasst werden. Daher sind Gedanken hilfreich zum Planen, aber laden sonst oft nur zur Verwirrung ein. Ok, ich dachte, es würde nur ein Satz.
Lieber Herr Kruse,
ganz herzlichen Dank für Ihre schnelle und ausführliche Antwort! Ich finde es wirklich klasse, dass Sie so detailliert auf meine Fragen eingegangen sind, und das auch noch an einem Feiertag.
Ihre Nachricht hat eine paradoxe Wirkung auf mich: Einerseits löst vor allem Ihre Erinnerung, dass natürlich auch Fragen wie “Gibt es / Gibt es nicht?” lediglich Gedanken, also dualistische Formen, sind, große Erleichterung in mir aus – so, als ob ich mir durch diese Erkenntnis nun nicht mehr die Mühe machen muss, mir diese Fragen ständig zu stellen. Andererseits verursacht gerade diese Erkenntnis aber auch, dass Unruhe und Enttäuschung in mir aufsteigen, verbunden mit dem Gedanken, dass ich dann ja “nie etwas sicher wissen” kann. Und die weitere Erkenntnis, dass freilich auch dies nur ein Gedanke ist, kann mich (im Moment zumindest) leider auch nicht beruhigen.
Und trotzdem ist da eine Ahnung in mir, dass genau diese Einsicht, dass letztgültige Antworten niemals gefunden werden können, zur Ruhe führt oder, um es schön paradox zu formulieren: dass die Lösung aller Fragen ist, dass es keine Lösung gibt.
Dies nur als kurzes Feedback. Ich werde mir Ihre Sätze noch häufig “durch den Kopf gehen lassen”. Nochmals ganz herzlichen Dank für Ihre Antwort und auch für den Hinweis auf Ihre Webseite, auf die ich schon sehr gespannt bin.
Ich antworte Ihnen gerne, gerade am “Tag der (deutschen) Einheit”!
“Die Lösung aller Fragen ist, dass es keine Lösung gibt.” … Ich würde sagen: Die Lösung solcher Wirklichkeitsfragen ist zu erkennen, dass Gedanken eine abstrahierte, verzerrte Scheinwelt erzeugen, die der Wirklichkeit ähnelt, aber sie nicht erfassen kann.
Und dass gedankliche Antworten auf gedankliche Fragen der Wirklichkeit bestenfalls einigermaßen ähneln, aber nie, nie, nie, nie, nie die Wirklichkeit erfassen, die jenseits der Gedanken liegt.
Sich an Gedanken zu halten, die Sicherheit versprechen (“DIE Antwort”), führt zu Dogmen und zu Dogmatik.
Und fürs Denken ist das vielleicht erst mal frustrierend zu erkennen: Es gibt Bereiche, in denen das Werkzeug “Denken” nicht greift.
Dann kann es aber auch sehr erleichternd sein. Denn das Denken braucht sich nur noch um die Bereiche kümmern, für die es zuständig ist: Planung usw., und muss nicht mehr für ALLES zuständig sein.
Das Denken hat Fragen, die im Denk-Modus faszinierend und vor allem wichtig erscheinen und oft überhaupt nur im Denken existieren: “Der Dorfbarbier rasiert die Männer, die sich nicht selbst rasieren. Rasiert er sich selbst?”
Und das Denken kann mit solchen Fragen spielen, wenn es Spaß daran hat, aber dabei wird es keine Sicherheit oder die Antwort auf alles finden (die bekanntlich “42” ist).
Die faszinierendste aller Fragen finde ich: Was ist “JETZT”?, eben weil alle gedanklichen Antworten darauf völlig unzureichend sind und die einzig interessante Antwort nur in der gegenwärtigen Offenheit besteht.
Die Antwort ist Stille. Stille für das, was sich jetzt zeigt.