Aus allem schaut dasselbe
Lieber Dittmar,
1.) Zum Thema: Die Erfahrung zu haben, alles zu sein. Da höre ich dich gleich sagen: “Das ist auch nur eine von vielen Erfahrungen.” 🙂 Also ich höre es immer wieder mal, dass Menschen sagen, sie hätten diese Erfahrung. Mir kommt sie sehr erstrebenswert und sehr verlockend vor. Würdest du sagen, dass es eine Erfahrung ist, die kommt und geht und unerheblich für das Erwachen ist? (Bei der Frage merke ich natürlich ein “Haben wollen” bzw. ein “Hinkommen wollen”.)
Ich frage mich manchmal, ob diese Erfahrung nicht einfach so geschieht, wenn sich “Bewusstsein bewusst bewusst ist”, wie du es mal so schön ausgedrückt hast. Also eine Erfahrung, die “ich” öfters mache. Doch meistens denke ich doch, dass es eine besondere Erfahrung ist. Am Anfang meiner Satsang-Zeit hatte ich ja auch öfter besondere Erfahrungen davon, jemanden anzusehen und das Gefühl zu haben, ich schaue mich an oder das Sehen, dass das Göttliche durch alle Menschen schaut und alle Ausdruck des Göttlichen sind.
Das führt mich gleich zu der zweiten Frage:
2.) Du erwähntest beim letzten Gesprächsabend die Erfahrung, dass aus allem dasselbe schaut … Ich bin mir gerade nicht sicher, ob ich da weiß, was du meinst. Ich sehe es so, dass das wieder etwas anderes ist als meine Erfahrung damals. Und mein Gefühl ist, dass diese Erfahrung mir irgendwie auch vertraut ist – wenn ich der Feinheit der Erfahrung traue … Wie ist deine Erfahrung dazu ?
3.) Die dritte Frage ist nicht so leicht zu formulieren – aber ich versuch’s mal: Wenn du solche Sachen sagst wie: “Statt Gedanken zurückweisen lieber dem vertrauen, was jenseits der Gedanken ist” oder “Glück ist, wenn die Gegenwart interessanter ist als das, was gedacht wird”, dann liebe ich das! Aber ist da nicht auch bei mir der Ich-Gedanke am Werk, der sieht, dass es besser ist, mit der Aufmerksamkeit in der Gegenwart zu ruhen? Oder ist es eher so gemeint, dass das von dir (als ein Ausdruck des Lebens) gesagt wird und dann von uns (als Ausdruck des Lebens) gehört wird? Das soll heißen, dass es das Leben zum Leben sagt…..
Ganz liebe Grüße
Lieber …
Das Erleben, dass da nur Eins ist, das sich in unendlich vielen Formen zeigt, IST das Erwachen (in meiner Beschreibung). Dass alle “anderen”, alle Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken usw., alles Ausdrucksformen desselben Absoluten sind. Ausdruck der einen liebevollen Lebendigkeit, die alles erfüllt, alles ist. Das wird klar und fühlbar, sobald sich die Aufmerksamkeit dem Bewusstsein zuwendet und “Bewusstsein bewusst bewusst” ist. “Alles ist Das”, “alles ist Ich”, “alles ist Du” … das ist alles dasselbe.
Wenn die Aufmerksamkeit sich auf eine spezielle Erscheinung(sform) konzentriert, dann kann dieses Erkennen des Einen als Eins in den Hintergrund treten. Aber es erscheint nie “anders”, nie als ob etwas die Getrenntheit bestätigen würde oder die Illusion glaubhaft machen würde. Das, was “andere” anschaut, ist dasselbe, was durch sie zurückschaut. Was schaut ist was schaut. Da ist nur Schau(en). Die Erfahrung ist vertraut und immer wieder ganz neu, nie “Jaja, ich weiß schon”; sie “bleibt” einzigartig und nutzt sich nicht ab. Und sie ist nie “weg”, sondern manchmal im Hintergrund und manchmal im Vordergrund des Erlebens.
Ich erkenne keinen Unterschied zwischen Frage 1.) und 2.), vielleicht hilfst du mir da auf die Sprünge?
Frage 3.) Ja, das Leben sagt es zum Leben. 🙂
Wenn jemand sagt: “Weißt du, was super schmeckt? Wenn du ein Fitzelchen Zitron von Schale in den Espresso tust!” (Bonusfrage: Zitat aus welchem Film?), dann kann der Gesprächspartner sagen:
a) “Ok, das probiere ich mal aus!”
b) “Stimmt, das ist auch meine Erfahrung!” / “Mir schmeckt das gar nicht!”
c) “Ich will das nicht ausprobieren!”
d) “Aber da ist ja niemand, der das ausprobieren kann!”
Bei Antwort d) weißt du: Der hat Advaita-Bücher gelesen.
Natürlich können Empfehlungen hilfreich sein! Natürlich brauchen sie kein “Ich”, um ausprobiert zu werden! Und natürlich kann ein “Ich”-Gedanke sie sich aneignen, so wie er sich alles aneignen kann, auch den Gedanken “Da ist ja niemand, der das ausprobieren kann! … und ich bin jemand, der das erkannt hat.” Aber Ausprobieren kann geschehen und geschieht.
Es stimmt auch, dass Empfehlungen die Illusion eines Machers verstärken können – vor allem wenn es um angebliche Schritte geht, die der Macher tun kann, um seine Abwesenheit zu erkennen.
Die Beschreibung, dass die Gegenwart interessanter ist als die Gedanken, lenkt die Aufmerksamkeit auf eine einfache und sofort überprüfbare Tatsache, so wie die Aussage: “Da ist die Schwerkraft, sie ist spürbar.” Die Aussage kann gedanklich aufgefasst werden: “Ok, das werde ich bei Gelegenheit mal anwenden!”, oder erlebt werden. Gedanklich aufgefasst ist es halt nur ein Gedanke mehr.
Erlebt ist es ein Erkennen der Wirklichkeit. Ein Erkennen der Liebe im Moment und zum Moment, ein Wieder-Erkennen der Liebe diesseits und jenseits von Gedanken. Und ein momentanes Loslassen der Gewohnheit, Gedanken mehr zu vertrauen als dem ErLeben. Liebe, Frieden, Freiheit sind im gegenwärtigen Schauen. Das ist, was alle wollen. Nur suchen viele in Gedanken nach Wegen, die zu Liebe, Frieden und Freiheit führen. Die Reaktion auf “Schau!” ist Schauen (ohne “jemanden, der schaut”) … oder eben Gedanken, die begründen, warum Schauen nicht möglich / nicht nützlich / nicht nötig ist.
Eins noch zum Haben-Wollen: Tausend Beschreiber beschreiben ihr Erleben auf tausend Arten. Ich habe mal von einem gelesen, der seit dem Erwachen alles in gleißendem Licht sieht, was beim Schlafen lästig sein könnte. Das einzige Kriterium, das ich interessant finde, ist: Ist es Liebe, dann ist es Wachheit. Alles andere ist egal.
Natürlich will jeder Liebe erleben, weil er Liebe ist.
Liebe & Grüße!
Dittmar