Abwesenheit spüren?
Lieber Dittmar,
ich bin fleißig am Lesen deiner Texte und da hat sich folgende Frage aufgetan: Wie kann ich spüren!, dass bei all diesen (widersprüchlichen) Gedanken und Gefühlen doch “niemand” da ist, der handelt, sondern alles von selbst geschieht?
Gelesen habe ich bisher viel; verstanden ein wenig.
Darauf habe ich ein paar (widersprüchliche) Antworten, aber nicht DIE Antwort.
1. Antwort: Wie könntest du spüren, dass kein Gespenst im Zimmer ist? Die Abwesenheit von “etwas” zu spüren, das kennen wir nur als Gefühl von Vermissen (“Ach, Schatzi …!”) oder Erleichterung (wenn ein Schmerz weg ist).
Wenn es aber von vornherein nie ein Gespenst, ein Schatzi oder einen Schmerz gab, wie würde sich der “Unterschied” anfühlen?
2. Antwort: Widersprüchliche Gedanken und Gefühle sind ja ein Hinweis darauf, dass da keine Ich-Einheit als Einsatzleiter dahintersteht, sonst wären auch die Gedanken einheitlich oder wir wären mit den Gedanken immer einverstanden (d.h. keine anderen Gedanken würden ihnen widersprechen).
Das ist wie gesagt ein Hinweis, kein Gefühl … Vielleicht wird aber aus dem Hinweis eine Erkenntnis, die dann spürbar wird.
3. Antwort: In meinem Fall hat es sich so angefühlt, als wäre das, was den Laden zusammenzuhalten schien, plötzlich nicht mehr da. Das war, als ob ein Kleister alle Gedanken und Gefühle und Empfindungen aufeinander bezogen hätte – und dann war da kein Kleister mehr, sondern nur noch frei schwebende Empfindungen und Gedanken …
Und daraus kam die Erkenntnis: Da ist WIRKLICH niemand, der das alles macht! Es war also nicht so, dass ich erst etwas erkannt hätte und diese Erkenntnis dann spürbar geworden wäre, sondern ein “energetisches Zusammenhalten” hat aufgehört und das wurde erkannt. Das, wofür ich mich gehalten hatte, war nur eine Anspannung gewesen, ein Zusammenziehen.
… So ungefähr war es, das ist nicht wirklich in Worte zu fassen, und das heißt auch nicht: “So muss es sein”, so habe ich es halt erlebt.
Andere erleben das vielleicht ganz anders (vielleicht ganz undramatisch, siehe die ersten beiden Antworten).
Fazit (oder Zwischenstand): Da tauchen viele Gedanken und Gefühle und Sinneseindrücke auf. Taucht denn auch etwas auf, das du “Ich” nennst, oder ist das “Ich” nur der Inhalt von Gedanken … und da sind NUR Gedanken, Gefühle, Sinneseindrücke?
(Suggestivfrage!) (Aber interessant!)
Danke für die hilfreiche Antwort!
Zu 1: Ja es ist schwierig, etwas zu fühlen, was schon immer da ist. Manchmal hab ich so ein Gefühl von Weite, Unendlichkeit, Einssein, Glückseligkeit. Das würde ich vielleicht damit in Verbindung bringen. Das möchte ich natürlich öfters spüren und mein Ego sagt: “Ja, such das, das ist gut” und schon sitze ich vielleicht wieder in der Tun-Falle.
Manchmal taucht auch Angst auf. Was soll ich denn nur tun, wenn “nichts” mehr ist, wenn die Suche wegfällt (hat Spaß gemacht zu suchen). Was soll ich jetzt tun? An was orientieren? Keine Wünsche, nur noch Reaktion? Alles passiert von alleine; ich brauche nichts mehr zu tun – außer das was ich tue. Komisches Gefühl.
Zu 3: Gestern Abend bin ich essen gegangen. Ich habe die Leute beobachtet und da waren nur sinnliche Eindrücke: Figuren sind gegangen, Töne waren zu hören, der Wind war zu spüren, alles war für sich. So wie du sagst, der Kleister fehlte. Doch allzu schnell war ich wieder in allem verstrickt.
Ja, das “Gefühl von Weite, Unendlichkeit, Einssein, Glückseligkeit”! Das ist sehr schön, und es ist dann spürbar, wenn die Aufmerksamkeit sich auf den Hintergrund, die Quelle des Erlebens richtet und darin aufgeht.
Dann werden auch die “Dinge” in einem neuen Licht gesehen. Und dann ist es auch sehr verständlich, dass ein Gedanke sagt: “Das will ich immer haben” (ein Gedanke macht noch kein Ego!).
Ich hab darüber mal ein Gedicht geschrieben, du findest es hier: In voller Blüte.
Der Verstand verknüpft das Erleben von Einssein mit dem Empfinden von Weite, weil “Es” da so klar und eindrucksvoll und eindeutig empfunden wird.
Dann erscheint das Einsetzen von “normalen” Gedanken wie ein Rückfall, wie eine Verstrickung, und dann scheint es, als wäre der Kleister wieder da. Wenn aber keine Bedingungen daran gestellt werden, wie sich das Einssein zeigen soll, dann ist das kein Kleister, sondern vielleicht nur eine Empfindung von Anspannung oder eine Konzentration auf Inhalte, bei der der Hintergrund wieder in den Hintergrund tritt.
Daran ist nichts falsch. Es widerspricht nur der Vorstellung eines ständigen Schwebens in der Glückseligkeit, aber es ist halt das Leben in seiner ganzen Vielfalt, wie Ein- und Ausatmen.
Konzentrationsfähigkeit bleibt. Gedanken dürfen kommen. Sie sind weder ein schlechtes Zeichen noch wahr.
Und Wünsche kommen. Hunger ist der Wunsch nach Essen, Frieren ist der Wunsch nach Wärme. Alles ist völlig natürlich. Nur verlieren die Gedanken jede Glaubwürdigkeit, die behaupten zu wissen, wie das Leben (und damit ich) “eigentlich” sein müsste. Und das Leben darf so sein, wie es jetzt gerade ist (als ob es jemals auf eine Erlaubnis gewartet hätte!), mit allen Gedanken, Anspannungen und Entspannungen.
In dieser unbegrenzten Erlaubnis, in der Nicht-Identifikation mit urteilenden Gedanken, sortiert sich das Erleben, Denken und Verhalten neu. Die Erkenntnis ist nicht nur: “Da ist ja niemand”, nicht nur Abwesenheit, sondern das Erleben, was stattdessen wirklich da ist: “Da ist Liebe.”
Die Aufmerksamkeit richtet sich immer mehr auf die Liebe aus wie Eisenspäne auf einen Magneten. In der Anziehungskraft der Liebe (“Weite, Unendlichkeit, Einssein, Glückseligkeit”) legt der Organismus alte Muster ab, die auf der Vorannahme der Getrenntheit gegründet sind. Der Blick bleibt immer mehr in der liebevollen Offenheit.
Das geschieht von selbst, aus Liebe zur Liebe. Meiner Erfahrung nach werden nicht alle Muster sofort und für immer abgelegt, sondern in einem Lernprozess: Das Leben lernt.